Salento

Salento

Wenn mich jemand fragt „Welcher Typ bist du? Berge oder Meer?“, tue ich mir immer schwer, die richtige Antwort zu finden. Ich liebe es barfuß über den Strand zu laufen, mich von den Wellen schaukeln zu lassen und zum Horizont zu schauen…doch Hand aufs Herz: Irgendwo auf einem Berg zu stehen, klare Luft atmen, den Vögeln gefühlt etwas näher sein und den Blick übers Tal und die umliegenden Berge schweifen lassen – das ist der Inbegriff von Freiheit für mich. Dennoch bin ich froh, dass es keine entweder-oder-Entscheidung ist 😉 Wie oft standen wir in den letzten Monaten irgendwo, haben uns klein und unbedeutend gefühlt, während wir gestaunt haben, was die Natur alles geschaffen hat und auf welchem wunderschönen Planeten wir hier leben.

Schon der Landeanflug auf Pereira lässt vermuten, wie toll die Umgebung hier ist. Die einstündige kurvige Busfahrt nach Salento verschlafen wir leider direkt. Als ich die Augen wieder aufschlage, glotzt mich eine riesengroße Plastikkuh an, die mitten auf einem Feld, umringt von Kaffeebergen steht und sich zwischen den Beinen als Milchtheke entpuppt. Wir sind angekommen im Kaffeeherz Kolumbiens.

Weil wir noch keine Unterkunft gebucht haben, stärken wir uns erst mal bei einem ‚menu del dia‘ im erstbesten Restaurant. Dann heißt es: Unterkünfte abklappern und Zimmersuche (inklusive „Knietest“ versteht sich, denn mittlerweile sind wir Profis, was das Erkennen von guten und weniger guten Matratzen angeht – am besten zu analysieren mit dem Knie :D)

Salento haben wir vom ersten Moment an lieb gewonnen mit seinen vielen bunten Türen, der hübschen Calle Real (die Fußgängerzone) mit ihren gemütlichen Cafés und den grünen Bergen und tollen Ausblicken drumherum.

Mitten auf dem Hauptplatz der Stadt, dem Plaza Boliviar (so wie gefüht 90% aller Plätze Kolumbiens heißen) tummeln sich am Wochenende Menschenmassen. Der Platz scheint überzuquillen von Menschen, die auf der Straße tanzen oder direkt mit der zehnköpfigen Familie zum Stadtbummel aufgebrochen sind, kleinen Fressbuden oder älteren Männern, die Kinder in Spielzeugautos für ein paar Pesos einmal ums Karree schieben. Kaum ist Montag und die neue Woche angebrochen, verwandelt sich Salento zurück in eine gemütliche Kleinstadt. Auf dem Plaza Boliviar stehen nun die bunten und liebevoll gepflegten „Willys“ in Reih und Glied und warten auf Fahrgäste.

Willys, oder auch bekannt als „mulitas mecánicas“ (mechanische Maultiere) sind alte Jeeps, die im Hochland Kolumbiens zum Transport für fast alles genutzt werden. So sieht man schonmal einen der bunten Jeeps über Buckelpisten-Straßen holpern, beladen mit Schweinen, Säcken voll Kaffeebohnen, Möbeln oder eben Touristen – und das nicht zu knapp. In einem Willy mit acht offiziellen Sitzplätzen kann man auch schonmal mit 15 oder mehr Personen durch die Landschaft brettern – das kann sehr lustig, aber auch mal sehr anstrengend werden. Lustig und schön, wenn man mit einem gemütlicheren Fahrer bei Sonnenschein unterwegs ist und sich den Fahrtwind um die Nase wehen lässt, anstrengend dann, wenn man bei Regenwetter nur noch den Stehplatz bekommt, sich verkrampft an einer stinkigen Eisenstange festhält um beim steilen bergauf-fahren nicht hinten runter zu fallen und nebenbei noch wie in einem Videospiel den herunterhängenden Ästen ausweichen muss. Eins ist sicher: Jede Fahrt ist irgendwie besonders und voll von Überraschungen.

Eine der „Hauptattraktionen“ um Salento ist das Cocora-Tal, wo die höchsten Palmen der Welt stehen. Gleich zweimal zieht es uns ins Cocora Valley und die zwei Touren hätten unterschiedlicher kaum sein können.

Beim ersten Besuch ist der Himmel grau als wir am Ziel angekommen vom Willy abspringen. An einer kleinen Holzhütte am Eingangsweg verleihen zwei Kolumbianer Gummistiefel für alle Fälle. Eine andere Touristin die mit uns angekommen ist versichert uns, dass es sich lohnt – es hat die ganze Nacht geregnet und die Wege teilweise so matschig, dass wir mit unseren Turnschuhen erstens sofort nasse Füße hätten und zweitens hinterher auch die Schuhe aussortieren könnten. Also starten wir unsere Wanderung eben mit einer kleinen Shoppingtour, kaufen dicke Socken im benachbarten Holzhüttchen und stapfen los durch den knöchelhohen Schlamm. Ich muss zugeben: in dem Moment ist es ein Fest für mein inneres Kind, die tiefsten Pfützen mit etwas mehr Schwung zu nehmen.

In den nächsten Stunden erleben wir gefühlt alle denkbaren Wetterlagen – Regen, Sonne, blauer und grauer Himmel und plötzlich sieht man außer einer weißen Nebelwand gar nichts mehr. Schwitzen – Frieren – Pulli an – Schwitzen – Pulli aus – Frieren…

Mit jedem Tag, den wir in Salento verbringen spüren wir, wie sich die Regenzeit langsam verabschiedet und die Sonnenstunden wieder zunehmen. So kommt es, dass alle Matschwege beim nächsten Besuch staubtrocken sind und wir die Umgebung bei blauem Himmel und Sonnenschein erkunden können.

Bei einer Pause sitzen wir gemütlich auf einem der saftig grünen Hügel, während Manuel sinniert: „Hey, bekommst du auch plötzlich Lust auf Schlitten fahren?“ Schon wieder schreit mein inneres Kind laut Hurra! So rumpeln wir die Wiese hinunter, bis wir nicht mehr wissen wo oben und unten ist, wir uns den Bauch halten vor Lachen und uns einfach frei fühlen.

Bis zu 60 Meter hoch können die Wachspalmen werden. Und während wir hier so stehen inmitten von grünen Hügeln, den Kopf in den Nacken legen und in den Himmel schauen, könnte man fast meinen, sie kitzeln mit ihren Köpfen die vorbeiziehenden Wolken. Mal wieder ein Moment auf unserer Reise, in dem sich Gänsehaut breit macht.

Als wir wieder im Ort ankommen, entdecken wir ein handgeschriebenes Schild an einem Laternenpfosten „Yoga, Tuesday and Thursday, 5 PM“ – spontan entscheiden wir uns dafür und stehen pünktlich um 17 Uhr in Sportkleidung vor der Tür der Yoga-Adresse. Beim Eintreten ist uns sofort klar: das ist eine komplett andere Art Yoga, wie wir es erwartet haben – die Lehrerin sitzt im Schneidersitz auf einer Yogamatte, umgeben von Räucherstäbchendampf, trägt einen roten Sari, hat ein drittes Auge zwischen den ihren und heißt uns mit hoher und leiser Stimme Willkommen. Auf die Frage, woher sie kommt antwortet sie uns „I am from many places.“ Atem-Yoga steht auf dem Programm und wir können uns leider nicht mehr zusammenreißen, als die Lehrerin anfängt auf eine Art auszuatmen, die sich wie Hyperventilieren, Schnarchen und Grunzen gleichzeitig anhört. Die Stunde besteht für uns aus Lachen, Prusten, Bauch halten und zwischendrin immer wieder dem Versuch, ernsthaft mitzumachen – glücklicherweise nimmt es uns die Lehrerin nicht krumm. Sie lacht mit uns und freut sich, dass wir so gesegnet sind, „unser Inneres auf diese Weise aus dem Körper bringen können“.

Kolumbien ist der drittgrößte Kaffeeproduzent der Welt und das Lieblingsgetränk der Deutschen (zumindest statistisch gesehen) ist: Kaffee. Bei dieser Kombi also klar, dass wir uns eine Tour auf einer Kaffeeplantage nicht entgehen lassen können, wenn wir uns gerade mitten im Kaffeedreieck Kolumbiens befinden. Wir pflücken selbst ein paar Bohnen, pflanzen einen Teil davon als Setzlinge wieder ein, mit dem anderen Teil unserer Ernte durchlaufen wir den Prozess von der Bohne zur Tasse. Wir spazieren zwischen den Kaffeesträuchern entlang, während uns der Guide mit Infos und Fakten versorgt und uns nebenbei alle tierischen Bewohner der Farm vorstellt. Zwei davon haben es uns besonders angetan: José, der Hahn, der so zerrupft aussieht, dass der besorgte Farmbesitzer schon einen Tierarzt hat kommen lassen, um dann von diesem die Diagnose zu bekommen: das Tier ist kerngesund und einfach nur ein bisschen hässlich 😆 und Gina, der grüne Papagei von dem wir an diesem Tag die schönste Version der kolumbianischen Nationalhymne hören. Bevor es zurück nach Salento geht, gibt’s natürlich noch eine frische Tasse Kaffee mit Blick über die Kaffeeplantage – besser gehts nicht!

Später verbringen wir einen sehr lustigen Nachmittag bei Regenwetter im ‚Alt-Herren-Club‘ der Stadt bei einer Runde Pool. Zu jeder Tages- und Nachtzeit tummeln sich hier die älteren Herrschaften Salentos und treffen sich zu einer Runde Pool, Domino oder Tejo – ein typisch kolumbianisches Spiel bei dem man kleine Säckchen mit Schwarzpulver auf eine Scheibe wirft und sie somit zum Platzen bringt. Das Durchschnittsalter drücken wir definitv um einige Jahre nach unten.

Nach einigen Recherchen zu den Wasserfällen in der Umgebung entscheiden wir uns schließlich gegen den meist beworbenen Wasserfall, dafür für ein etwas verstecktes Exemplar. Linda und ich machen uns zu zweit auf den Weg. Weil wir im Netz nicht besonders viel Information dazu finden, fragen wir uns durch – der Weg ist abenteuerlich, führt über steile Wiesen und matschige Pfade im Dschungel. Als kurz vorm Ziel eine riesige Wurzel den schmalen und matschigen Pfad versperrt, stehen wir erst mal da wie Karnickel in der Schockstarre – nach kurzem Sondieren der Lage, klettern wir souverän über das Hindernis und werden schon kurz danach mit einem tollen Blick belohnt. Lindas Worte als wir ein paar Minuten einfach nur sprachlos geschaut und die Stimmung eingesogen haben: „Kennst du das, wenn man weiß, man kommt hier vermutlich so schnell nicht mehr her und versucht dann, sich alles so gut es geht einzuprägen, um es sich möglichst lange so zu behalten?“ – Ja, ich weiß genau, was du in dem Moment gemeint hast…so stehen wir noch eine Weile schweigend nebeneinander, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Dass ich da noch einen Glücksklee finde, macht den Ausflug noch ein bisschen schöner 🙂

Salento wird schnell zu einem ganz besonderen Ort für uns. Wir fühlen uns wohl, bleiben ganze zwei Wochen hier und genießen es, mal wieder länger an einem Ort zu sein, eine Art Alltag finden, sich auskennen und etwas tiefer einzutauchen, als nur die besten Highlights mitzunehmen.

So kennen wir mittlerweile den Besitzer unseres Lieblingscafés und haben die komplette Karte rauf und runter probiert. Wir wissen wo es das beste menu del dia gibt, nehmen stundenweise Spanisch Unterricht und haben auch heute (ein paar Wochen später) noch die sonore Stimme des Aborrajados-Verkäufers im Kopf, der mit seinem Wägelchen und rotem Sonnenschirm durch die Calle Real läuft und „Aborrajados calientes!“ ruft und uns zuwinkt, wenn er uns entdeckt – wir gehören ziemlich schnell zu seiner Stammkundschaft. Ich gehe seit langem mal wieder regelmäßig Joggen und erkunde so gefühlt alle Straßen in und um Salento.

Am Abend vor unserer Weiterreise nach Medellin sitzen wir nochmal an meinem ‚Salento-Lieblingsplatz‘. Der Aussichtspunkt, von dem man auf einer Seite die umliegenden Berge und auf der anderen Seite einen schönen Blick über die Stadt hat. An dem Abend gibt der Himmel nochmal alles. Von einem strahlend blauen Himmel auf der einen und dicken grauen Wolken mit einem kräftigen Regenbogen auf der anderen Seite über einem in goldenes Licht getauchtes Tal…Natur kann so wunderbar sein. Ein älterer Mann, der aus seinem Hutgeschäft kommt, gesellt sich zu uns, erweitert unseren Spanisch Wortschatz um „arco iris“ und erzählt uns, wie sehr er seine Heimat in solchen Momenten liebt – ja, das können wir gut verstehen.

Danke Salento! Es war schön mit dir 💕

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