Hallo León, hallo Nicaragua – hier sind wir nun. Wieder einmal sind wir bei Dunkelheit angekommen, was wir eigentlich so ungern mögen. Weil die Fahrt von El Salvador lange war und wir erst spät ins Bett gekommen sind, schlafen wir an unserem ersten Nica-Tag erstmal richtig lange aus. Frühstücken dann in Ruhe und wie sich das in Nicaragua gehört, gibt es gleich Gallo Pinto, das Nationalgericht: Reis mit roten Bohnen. Bis wir das erste Mal wirklich einen Fuß auf die Straße setzen und in die Stadt kommen, ist es ca. 12 Uhr und „tote Hose“. Vereinzelt sitzen ein paar Leute auf Bänken oder in Cafés, ein größerer Supermarkt hat zwar geöffnet, doch an allen anderen Läden sind die Schotten dicht – irgendwie wirkt die Stadt etwas verlassen – und das für eine ehemalige Hauptstadt? Unser erster Gedanke: Sind das noch Ausläufer der nationalen Krise im letzten Jahr, ist das öffentliche Leben noch so stark eingeschränkt? Wir schlendern durch das Städtchen und finden einige hübsche Ecken. Die Straßen erinnern an die revulotionäre Vergangenheit der Stadt – Wände sind geziert von Graffitis, zeigen Bilder der Revolution und feiern ihrer Helden. Wir haben den Eindruck, León ist keine klassische Touristenstadt, die meisten Besucher stranden hier, weil sie (wie wir) aus El Salvador oder Honduras nach Süden reisen oder wegen dem Vulkan Boarding, wo man den nahe gelegenen Vulkan Cerro Negro auf einem zusammengezimmerten „Holzschlitten“ runterbrettern kann.
Die Gegend um León ist die wärmste im ganzen Land, das bekommen wir direkt zu spüren. Das Thermometer pendelt um die 38 Grad Marke – die Sonne brennt auf der Haut. Wir können uns kaum länger als zwei Stunden in der Stadt aufhalten, brauchen deshalb schon bald eine Pause und gönnen uns eine Siesta im schattigen Innenhof-Garten unseres Hostels. Als wir uns später wieder Richtung Innenstadt bewegen, kommt es uns so vor, als wären wir plötzlich ganz woanders gelandet. Der Hauptplatz ist kaum wieder zu erkennen, voll von Musikern, Menschen, Verkäufern und alles sprüht gerade so vor Lebensfreude – auf den zweiten Blick gefällt uns die Stadt dann doch besser als anfangs gedacht. Wie wir später heraus finden: Die meisten Läden sind Sonntags geschlossen und in der Mittagshitze zwischen 11 und 16 Uhr machen die Einheimischen nur wenn unbedingt nötig einen Schritt vor die Tür – wir haben also einfach einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt für unsere erste Erkundungstour.
Wie in den meisten Städten, die wir bisher auf unserer Reise besucht haben, dreht sich alles um den großen Platz im Zentrum, der hier die größte Kathedrale in Zentralamerika beherbergt, die seit einigen Jahren zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. Dort begraben liegt der Dichter und Schriftsteller Rubén Darío, der wie ein Volksheld gefeiert wird – die Menschen hier sind stolz auf „ihren“ Schriftsteller, der das Land und die Sprache maßgeblich geprägt hat. Die Kathedrale selbst ist von außen eindrucksvoll, von innen schlicht und auf dem Dach spektakulär. Unseren Spaziergang auf dem weißen Kuppeldach haben wir uns für morgens aufgehoben, in der Hoffnung, dass die Temperaturen um die Tageszeit noch halbwegs annehmbar sind. Weit gefehlt – selbst um 10 Uhr hat es schon an die 36 Grad erreicht und dort oben lässt es sich temperaturtechnisch kaum aushalten – uff! Die Aussicht auf die Dächer von León, die vielen Kirchturmspitzen und die umliegenden Vulkane lässt uns die Hitze immerhin kurz vergessen – zwischen den weißen Kuppeln kommen wir uns fast so vor, als hätte uns jemand direkt in eine Filmkulisse gebeamt.
Mit dem Chickenbus geht es ein paar Tage später weiter Richtung Küste. Die alten Schulbusse aus USA dürfen dort lange nicht mehr fahren, werden nach Zentralamerika geschifft, hier dann repariert, gepimpt, bunt angemalt und mit Stolz und Hingebung von den Besitzern gehegt und gepflegt, bis sie wirklich auseinander fallen. Seinen Namen hat der Chickenbus wohl zwei Gründen zu verdanken: Die Passagiere sitzen eng aufgereiht, wie Hühner auf der Stange im Bus – die Sitzreihen würden in Europa zwei Sitzplätze hergeben, hier sitzen drei bis vier, oder auch mal fünf Personen auf einer Bank. Zudem kommt es öfter vor, dass auch Hühner oder sonstiges Getier zu den Passagieren zählt. Oftmals müssen wir selbst kurz blinzeln und können kaum glauben, was wir dort alles zu sehen bekommen. In manchen Situationen fehlt einfach nur eine Schüssel Popcorn zum perfekten Kinoerlebnis. Auf dieser Fahrt lernen wir Paola kennen, haben ein gutes Gespräch und können unsere Spanisch-Skills mal wieder ein bisschen aufpolieren – Übung macht den Meister.
Aufgrund der angespannten Situation in Nicaragua während des letzten Jahres, waren die Touristenströme stark rückgängig. Erst seit knapp vier Monaten steigt die Zahl der Touristen allmählich wieder an, was für Land und Leute enorm wichtig ist – viele Familien leben vom Tourismus. Wir fühlen uns überall herzlich Willkommen und spüren, wie froh die Menschen hier sind, wieder mehr Besucher im Land zu haben.
Las Peñitas, ein kleines Fischerdorf an der Pazifikküste ist unser Ziel. Auch hier merken wir, wie gravierend die Krise für einige Familien war. Einige kleinere Unterkünfte und Restaurants sind aktuell geschlossen – zu wenige Besucher in den letzten Monaten, dass es sich einfach nicht gelohnt hat alles auf Normalbetrieb weiterlaufen zu lassen. Dennoch sind wir natürlich nicht alleine hier, es sind einige Reisende unterwegs und doch kommt es uns so vor, als wären wir gerade in der Nebensaison hier, nicht in der Hauptsaison. Die Tage hier sind klassische Strandtage: in die Wellen springen, Spaziergänge über den Strand (wenn er nicht gerade so aufgeheizt ist, dass man sich direkt beim Betreten die Fußsohlen verbrennt), fangfrischen leckeren Fisch mit den Füßen im Sand bei Sonnenuntergängen, die schöner nicht sein könnten.
Durch Zufall stoßen wir hier auf das Umweltprojekt „Casa Verde“, das ein Amerikaner vor drei Jahren hier aufgebaut hat. Die Einheimischen können recyclebaren Müll dort abgeben und im Gegenzug Punkte sammeln. Diese können später im Shop eingetauscht werden gegen Kurse/Workshops oder Dinge, die gespendet wurden, wie Bücher, Kleidung, Surfbretter und Co.
In der Werkstatt werden aus den gesammelten Materialien dann verschiedene Nutzgegenstände, Möbel, Dekoartikel oder Schmuck gefertigt, die gegen kleines Geld verkauft werden. Alle Einnahmen aus dem Projekt fließen zurück in die local community in Form von Projekten und Workshops wie z. B. Sprach- oder Kochkursen. Sanchez ist verantwortlich für die „Schmuckabteilung“, knüpft Armbänder, bastelt Traumfänger und viele andere hübschen Dinge aus alten Plastiktüten. Dafür dreht und bearbeitet er schmale Plastiktüten-Streifen so lange, bis ein richtig robuster Faden daraus entsteht. Er merkt gleich, wie fasziniert wir davon sind und bietet uns an, es uns beizubringen. Am nächsten Morgen stehen wir also gemeinsam dort mit ihm und bekommen einen kleinen Crashkurs in Sachen „turning trash into treasure“. Gar nicht so einfach, die Plastiktütenstreifen so lange zu zwirbeln und zu drehen, bis man einen richtigen Faden in der Hand hält. Ein tolles Projekt, finden wir, das auf jeden Fall Unterstützung verdient. Nirgends haben wir bisher auf unserer Reise so viele Mülleimer in einem Dörfchen und einen so sauberen Strand gesehen, wie hier in Las Peñitas. Sicher auch ein Verdienst von Casa Verde – die Einheimischen sind auf das Thema Müll und Umweltschutz sensibilisiert.
Unser nächster Stopp ist Granada. Ein buntes Städtchen mit tollen Kolonialbauten. Ja, wir wissen, die meisten Städte auf unserer Reise haben wir bisher genauso oder zumindest so ähnlich beschrieben, doch Granada ist genau das, nur noch ein bisschen bunter und irgendwie besonders schön. Es hat seinen ganz eigenen Charme: bunte Betonwände, an denen die Farben langsam abblättert, Kolonialbauten mit superschönen Innenhöfen, das Getrappel von Pferdehufen auf dem Asphalt und zwischendurch das Glöckchen des Eisverkäufers, der zufällig gerade mit seinem Fahrrad vorbei kommt und im Nu Kinderscharen um sich ringt.
Auf Anhieb fühlen wir uns hier wohl, sodass wir unseren Aufenthalt (mal wieder) direkt nach Ankunft verlängern. Wir haben ein gemütliches Hostel mit tollem Innenhof. Oftmals sind die Gebäude von außen unspektakulär, sobald man aber den Innenhof betritt, landet man in einer anderen Welt, so liebevoll und schön sind sie teilweise gestaltet.
Während wir über den Hauptplatz schlendern, ruft ein kleiner Junge – höchstens 7 Jahre alt – Manuel ein ganz begeistertes „good afternoon“ zu. Auf die Frage, ob er Englisch spricht, nickt er eifrig und offenbart uns dann ganz stolz seinen Englisch-Wortschatz, der aus „Guten Morgen, Guten Mittag, Gute Nacht und Ich heiße Marco“ besteht. Auf Spanisch erzählt er uns dann von seiner Familie und seinen sieben – ach nein, kurz nochmal an den Fingern nachgezählt sind es dann doch acht – Geschwistern! Da kann man aber auch mal den Überblick verlieren. Als wir uns verabschieden, rennt er aufgeregt und stolz zu seiner Familie zurück und erzählt gleich von seiner Begegnung. Auch für uns sind diese kleinen Begegnungen besonders, schön, sodass wir uns manchmal noch Tage später darüber freuen können.
Weil mich meine dicke Mähne auf dem Kopf bei der Hitze langsam aber sicher stört, geht’s am nächsten Tag zum Friseur. Ganz stolz auf meine Spanisch-Skills erzähle ich der Friseurin, dass ich wegen des heißen Wetters gerne ein paar Haare weniger auf dem Kopf hätte, ein Zopf von der Länger aber unbedingt noch drin sein sollte. Sie nickt, sprüht mir die Haare mit etwas Wasser ein, kämmt und bindet alles zu einem Zopf zusammen – mein Gedanke dabei: „ah, jetzt checkt sie ab, wie mein Zopf noch gut sitzt und schaut, wo sie abschneiden kann!“. Doch weit gefehlt: So schnell kann keiner schauen, hat sie die Schere in der Hand, schneidet den ganzen Zopf ab, streckt ihn mir lächelnd über die Schulter entgegen, wuschelt mir nochmal kurz über den Kopf und sagt „Listo!“ („Fertig!“) während sie den Umhang mit Schwung wegnimmt und ausschüttelt. Sie hat wohl verstanden, dass ich unbedingt den Zopf mit nach Hause nehmen will. Manuel sitzt hinter mir auf einem Bänkchen. Wir werfen uns einen Blick im Spiegel zu, sein Gesichtsausdruck: zwischen ungläubig und extrem belustigt. Wir brechen erstmal in Gelächter aus und schnell ist klar, die neue Frisur ist doch eigentlich gar nicht so schlecht, sondern sogar ziemlich schön.
Drei Stunden paddeln wir am nächsten Nachmittag über den Lago de Nicaragua – im Zickzack, denn wir müssen zugeben, dass wir uns in Sachen Lenken nicht gerade als Profis erweisen. Dafür haben wir umso mehr Spaß, als wir dem Sonnenuntergang in Schlangenlinien entgegen rudern.
Vor mehreren tausend Jahren ist der Vulkan Mombacha explodiert und hat riesige Gesteinsbrocken in die Luft katapultiert. Einige davon sind direkt im Lake Nicaragua gelandet und bilden heute die „Las Isletas“ mit 365 Inseln. Strom gibt es mittlerweile fast auf allen Inseln und ungefähr 70% sind bewohnt. Die meisten Bewohner sind Selbstversorger, bauen Obst und Gemüse an, fischen, schlachten die Tiere aus eigener Haltung und wohnen mit mehreren Familien in Kommunen. Andere Inseln strotzen gerade so vor Luxus – einige bekannte und reiche nicaraguanische Familien haben hier ihr Feriendomizil aufgebaut mit Villen, Luxus und Hubschrauberlandeplätzen. Krasser könnte der Unterschied nicht sein.
Auf den Wasserstraßen grüßt man sich und lacht miteinander – die Menschen gehen herzlich miteinander um. Unterwegs bekommen wir eine Trink-Kokosnuss geschenkt – schöner könnte es kaum sein!